Symposium #3

Kluge Liste schützt Umwelt vor Medikamenten

Mehr als 400 Arzneimittelwirkstoffe sind in Seen, Flüssen und Bächen nachweisbar - teilweise in bedenklichen Konzentrationen. Ein Umweltindex des Umweltbundesamts für Ärzt*innen und Apotheken soll Abhilfe schaffen.

Gerd Maack spielt seinem Publikum zwei Audioaufnahmen vor. In beiden ist der Balzruf eines Krallenfroschs zu hören. Die Unterschiede erkennt auch das ungeschulte Ohr: Die zweite Aufnahme ist deutlich tiefer als die erste. „Diese Frösche haben ein Reproduktionsproblem, denn die Paare finden sich nicht mehr“, sagt Maack. Der Grund für die veränderte Stimme: Der Frosch ist im Wasser mit Ethinylestradiol (auch bekannt als „EE2“) in Berührung gekommen, einem Hormon, das etwa in der Pille vorkommt oder palliativ bei Prostatakrebspatienten eingesetzt wird.

Maack befasst sich beim Umweltbundesamt (UBA) mit Arzneimitteln. 10.000 Tonnen Humanarzneimittel wurden allein im Jahr 2022 in Deutschland verbraucht, erklärt er. Seit 2010 stieg der Verbrauch jedes Jahr um 2,11 Prozent. „Die Tendenz ist steigend“, so Maack. „Das liegt zum einen an der demographischen Entwicklung. Zum anderen trägt auch der Klimawandel dazu bei, denn höhere Temperaturen führen zum Beispiel dazu, dass Bakterien schneller wachsen.“

Über 400 Arzneimittelwirkstoffe wurden bei einer großen Studie 2019 im Oberflächenwasser in Deutschland gefunden. „In den allermeisten Fällen ist die Konzentration der Einzelsubstanzen für die Umwelt unbedenklich“, sagt Gerd Maack. Doch das gilt nicht für alle. Grundsätzlich wirken Medikamente auch außerhalb des menschlichen Körpers: Antibiotika wirken beim Menschen gegen pathogene Bakterien – aber auch gegen Bakterien in Böden oder Kläranlagen, dort wo sie unerwünscht sind. Antiparasitika töten nicht nur Kopfläuse, sondern auch Würmer, Protozoen und Insekten. „Wir beobachten an Fischen, die dem Schmerzmittel Diclofenac ausgesetzt sind, genau die Nebenwirkungen, die im Beipackzettel beschrieben sind“, so Maack. Beim Menschen wie Fisch kann sich die Linse trüben oder es kommt zu Einblutungen im Auge.

Abbildung 1 - Diclofenac Verbrauch in Deutschland
UBA-AUSWERTUNG zu Verkaufszahlen von Diclofenac auf Basis von IQVIA-Daten (2023)

Die meisten Arzneimittel geraten nicht etwa über den Müll oder Produktionsabwässer in die Umwelt. „Haupteintragsweg sind die Ausscheidungen aus dem Körper nach bestimmungsgemäßem Gebrauch“, erklärt Maack. Oder aber der Wirkstoff kommt erst gar nicht in den Körper, wie etwa bei Schmerzgels mit dem Wirkstoff Diclofenac. Nur 6 Prozent des Wirkstoffs gelange über die Hautin den Körper, der Rest werde abgewaschen. Bei anderen Wirkstoffen sei die Größenordnung ähnlich und schwanke zwischen fünf und zehn Prozent. Wer die Umweltbelastung verringern will, muss in diesen Fällen daher beim Verhalten der Kund*innen, der Ärzt*innen und der Apotheker*innen ansetzen. Interessanterweise ging der Verbrauch von Diclofenac in den letzten Jahren von 89 auf 78 Tonnen zurück, weil es deutlich seltener verschrieben wurde. Doch in der gleichen Zeit verdoppelten sich die rezeptfreien topischen Anwendungen (siehe Abbildung 1).

Maack führt dies auf ansteigende Selbstmedikationen zurück, manche Sportler*innen tragen die Salben sogar präventiv auf, ohne Beschwerden zu haben. In den meisten Fällen eine unnötige Anwendung: „Eine Auswertung von Studien mit 10.000 Teilnehmenden kam zu dem Ergebnis, dass topisches Diclofenac [also das auf die Haut aufgetragene Medikament, d.Red.] außer bei chronischer Arthritis gar keinen Nutzen hat“, so Maack. Es stört ihn, wie offensiv das Schmerzmittel in Apotheken oder sogar auf Wanderkarten mitunter beworben wird, denn es werde dort ein Nutzen suggeriert, den es gar nicht gebe.

Ein vielversprechender Ansatz, die Auswirkungen von Arzneimitteln auf die Umwelt zu verringern, besteht darin, gezielt Ärzt*innen und Apotheker*innen anzusprechen. Sie sollen eine Datenbank an die Hand bekommen, aus der sie die umweltbezogenen Eigenschaften von Medikamenten ablesen können. Ein solcher Arzneimittelindex soll sie ermutigen, umweltfreundlichere Arzneimittel zu verschreiben.

Das Umweltbundesamt hat im engen Austausch mit anderen Akteur*innen aus dem Gesundheitsbereich ein Konzept für einen solchen Index entwickelt und sich dabei auch an internationalen Vorbildern orientiert. „Schweden zählt zu den Vorreitern auf diesem Gebiet“, erklärt Arne Hein, der wie Maack im Umweltbundesamt im Bereich Arzneimittel arbeitet. „Dort arbeiten 90 Prozent der Ärzt*innen mit der 'Wise-List', in der Medikamente nach Wirksamkeit, Sicherheit, Verfügbarkeit, Kosteneffizienz und auch Umweltverträglichkeit erfasst sind.“ Die Liste enthält rund 200 Wirkstoffe zur Behandlung von 80 Prozent der häufigsten Krankheiten. Diese und andere Initiativen hat eine Machbarkeitsstudie zum Vorbild genommen für eine deutsche Version des Arzneimittelindex.

In einer Machbarkeitsstudie hat das Umweltbundesamt Eckpunkte bestimmt, wie sich der Index in Deutschland umsetzen lässt. „Als Informationssystem können wir auf das bestehende ChemInfo-Portal des UBA zurückgreifen“, sagt Hein. Dort soll, so der Vorschlag, ein einfaches Ampelsystem auf mögliche Umweltprobleme des jeweiligen Wirkstoffs hinweisen. Er hat schon einmal einen Ausblick erstellt, wie sich die rund 2.500 Wirkstoffe verteilen, die derzeit im Verkehr sind. (siehe Abbildung 2)

Abbildung 2 - Ein Ampelsystem für Umweltschäden von Arzneimitteln
Ein Ampelsystem, entwickelt vom UBA

Die Machbarkeitsstudie ist seit Januar beendet. Jetzt geht es darum, sie auf Konferenzen und in Fachzeitschriften vorzustellen, weitere Partner*innen zu finden, von Patientenvertretungen über Anbieter*innen von Praxissoftware bis hin zur Pharmaindustrie. „Die ersten Datensätze sollen noch dieses Jahr in ChemInfo integriert werden“, sagt Hein. „Im nächsten Jahr werden eine neue Benutzeroberfläche und das Ampelsystem vorgestellt.“

Im Fall des problematischen Diclofenac hat die „Wise-List“ in Schweden übrigens offensichtlich gewirkt. Die Zahl der Verschreibungen des Schmerzmittels ging von 127 pro 1.000 Einwohnern im Jahr 2006 auf 24 im Jahr 2023 zurück. Stattdessen wurde der deutlich umweltverträglichere Alternativwirkstoff Naxopren häufiger verschrieben. (s. Grafik)

Text: Martin Kaluza, Ahnen&Enkel