Internationales Plenum #3
Dekarbonisierung des Gesundheitssektors: Best-Practice aus fünf Ländern
Gesundheitliche Spitzenversorgung und effektiver Klimaschutz – geht das? Fünf europäische Projekte zeigen, wie nachhaltiger Wandel durch die Zusammenarbeit über Sektoren hinweg gelingt.
Frankreich: Ein Tool zur Bewertung der CO₂-Bilanz von Produkten
In den vergangenen zwei Jahren hat ein Team des französischen Industrieministeriums ein Tool entwickelt, in dem Einkäufer* innen den CO2-Score von Arzneimitteln und medizinischen Produkten ablesen können. Das Tool generiert den Score aus Angaben, die die Hersteller selbst einpflegen. Auf diese Weise können Beschaffungsabteilungen erstmals Produkte mit Blick auf den CO2-Ausstoß vergleichen. Erste Ausschreibungen haben bereits CO2-Scores als Vergabekriterien aufgenommen. Der große Unterschied zu Deutschland: Ausschreibende können nun Herstellern den Vorzug geben, die besonders klimafreundlich produzieren. Entwickelt wurde das Tool in Abstimmung mit der nationalen Zertifizierungsstelle COFRAC in Frankreich. In den kommenden Jahren soll es Vereinbarungen mit den Zertifizierungsstellen der anderen EU-Mitgliedsstaaten geben.
Charles Flahault arbeitet im französischen Industrieministerium und leitet in enger Zusammenarbeit mit den französischen Gesundheitsbehörden das Projekt zur Dekarbonisierung des Gesundheitswesens.
UK: Nachhaltigkeit in Gesundheitsversorgung
Wie groß ist der CO2-Ausstoß des Gesundheitssystems? Als die britische Sustainable Healthcare Coalition damit begann, den CO2-Fußabdruck von Medikamenten und Medizingeräten zu messen, kam sie rasch zu der Erkenntnis: Aussagekräftige Zahlen gewinnt nur, wer den gesamten klinischen Versorgungspfad betrachtet. Das Bündnis untersuchte den CO2-Impact bei Hausärzt*innen und im Krankenhaus, nahm die Nachhaltigkeit von Vorsorge, Immunisierung und Früherkennung unter die Lupe und bewertete innovative Produkte und wiederverwendbare chirurgische Ausrüstung. Dabei zeigte sich: Maßnahmen, die dem Patientenwohl dienen und die Kosten senken, haben in der Regel auch positive Auswirkungen auf die Umwelt. Diesen systemischen Ansatz nutzte die Koalition anschließend, um auch die Nachhaltigkeit von Forschung und klinischen Studien zu bewerten. Die Koalition setzt sich dafür ein, dass Umweltthemen Teil der Bewertung von Gesundheitstechnologien sein sollten, denn so ändert sich das System schrittweise mit jeder Entscheidung.
Fiona Adshead ist eine führende Expertin im Bereich Wohlbefinden und Nachhaltigkeit. Sie leitet die Sustainable Healthcare Coalition, die Partnerschaften und Maßnahmen für eine nachhaltige Gesundheitsversorgung fördert.
UK: Von der Messreihe zur internationalen Zusammenarbeit
Es begann mit einer Messreihe – am Ende steht die sektorübergreifende Entwicklung von Nachhaltigkeitsstandards für Medikamente: Im Jahr 2019 untersuchte die British Standards Institution (BSI) Abwasser auf die Belastung mit Antibiotika. Gemeinsam mit einem Industriekonsortium und anderen Stakeholdern entwickelte sie einen Industriestandard für den Nachweis bedenklicher Konzentrationen von Antibiotika im Abwasser – zuvor war eine Vielzahl von Messmethoden zum Einsatz gekommen. Mittlerweile wurden 60 Antibiotika in 15 Ländern nach diesem Prozess unabhängig zertifiziert und transparent in einem öffentlichen Verzeichnis aufgeführt. Vor allem die nordischen Länder haben sich dem Thema Abwasserbelastung mit großer Ernsthaftigkeit gewidmet. Die Erfahrungen aus diesem Projekt nutzt die BSI nun, um mit vielen Partner*innen und Stakeholdern weitere Standards für die Messung von Umweltwirkungen zu erarbeiten. Ziel ist es, die Auswirkungen individueller Produkte über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg zu verstehen. Auf der nächsten Welt-Klimakonferenz will das BSI möglichst viele andere Länder ins Boot holen. Das Ziel: Einen universellen, global anwendbaren Prozess festlegen, den sowohl Beschaffer*innen als auch Hersteller* innen nutzen können, um die Umweltfolgen von Medikamenten transparent zu bewerten.
Courtney Soulsby arbeitet als Global Director für das Healthcare and Life Sciences Sector Team bei der BSI (British Standards Institution) und konzentriert sich auf die Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen.
Dänemark: Mehr Wettbewerb für Nachhaltigkeit
In Dänemark nutzt die gebündelte Beschaffung ihren Einfluss, um auf dem Markt Anreize zu mehr Nachhaltigkeit zu setzen. Dänische Krankenhäuser beziehen nämlich ihre Medikamente über die zentrale Beschaffungsorganisation Amgros. Vor einigen Jahren beschloss die Organisation eine Nachhaltigkeitsstrategie, zu deren Säulen neben Dekarbonisierung auch die Förderung von Kreislaufwirtschaft, die Verhinderung von Resistenzen, Abfallvermeidung und verantwortungsvolles Handeln sind. In ihren Ausschreibungen setzt sie bewusst auf Wettbewerb und bietet Herstellern durch die Formulierung von Nachhaltigkeitskriterien Anreize, etwa Produkte mit weniger CO2-Ausstoß und geringerem Materialeinsatz zu entwickeln. Amgros arbeitet mit den Beschaffern in anderen nordischen Ländern daran, Nachhaltigkeitskriterien und Dokumentationspflichten zu vereinheitlichen. Dahinter steht auch der Gedanke: Wir können das nicht allein schaffen! Es wird teuer, wenn das jede*r für sich angeht.
Sofie Pedersen ist leitende Umweltexpertin bei Amgros, der zentralen Beschaffungsorganisation für Krankenhausmedikamente in Dänemark.
Belgien: Das Verhalten als Hebel zu mehr Nachhaltigkeit
In Krankenhäusern werden große Anstrengungen unternommen, mit Studien und Komitees, um medizinische Fehler zu analysieren und zu vermeiden. Im Vergleich dazu sind die Bemühungen um Nachhaltigkeit sehr gering – obwohl 90 Prozent der Emissionen des Gesundheitssektors in den Krankenhäusern entstehen. Dieses Ungleichgewicht geht die Initiative Net Zero Healthcare Impact in Antwerpen an. Das Team hat mit den Notfallabteilungen und dem Green Team gesprochen, den CO2-Ausstoß analysiert, Müll gescannt, Fotos gemacht und am Ende zwanzig Produkte und Prozesse identifiziert, deren Bilanz verbessert werden sollte. Sie brachten Einkäufer* innen, Ärzt*innen und Pflegekräfte, das Entsorgungsteam und das Infektionspräventionsteam zusammen. Eines der Ziele: Die Kultur ändern – schließlich hat Nachhaltigkeit auch eine Verhaltensdimension. Vor allem sei es nötig, den Beschaffungsabteilungen die Möglichkeiten zu geben, Nachhaltigkeit in die Entscheidungen einzubeziehen. Einkäufer*innen hätten das Problem, dass die Nachhaltigkeit der Produkte oft schlecht vergleichbar sei – einige Hersteller*innen bekräftigten, ihre Seife sei nachhaltig produziert, andere schickten einen kompletten Datensatz mit, der das belegt.
Brecht De Tavernier ist ein Notfallmediziner und leitet zwei Notaufnahmen des ZAS-Krankenhausnetzwerks in Antwerpen. Er ist Mitgründer von Net Zero Healthcare Impact, einer Initiative, die sich auf die ökologische Transformation von Krankenhäusern konzentriert.
Italien: Ein Rücknahmesystem für Inhalatoren
Jedes Jahr werden zehntausende Inhalatoren nicht angemessen entsorgt – wodurch CO2, Polyurethan und Metalle in die Umwelt gelangen. Eine 2022 gestartete Initiative des italienischen Apothekerverbandes Federfarma und Chiesi Italia ermöglicht es Patient*innen nun, ihre Inhalatoren bei Apotheken in dafür bestimmten Boxen abzugeben. Dahinter steht ein skalierbares Kreislaufsystem. Die Inhalatoren werden in zertifizierten Betrieben verwertet, zur Energieerzeugung genutzt und die Schadstoffe neutralisiert. Bislang haben 316 Apotheken über 73.000 Inhalatoren zurückgenommen. Die Apotheken werden so zu Orten der Umweltbildung und zu Protagonist*innen des ökologischen Wandels.
Clara Mottinelli ist Inhaberin einer Apotheke in Temù, Brescia (Lombardei) und seit 2008 Präsidentin der Federfarma Brescia.
Text: Martin Kaluza, Ahnen&Enkel