Auszug des Vortrags von Prof. Alena Buyx auf der WeACT Con 2025

„Wir sind vor der Aufmerksamkeitswelle“

In ihrem Vortrag spricht Professorin Alena Buyx, ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, über das Auf und Ab öffentlicher Aufmerksamkeit, die oft übersehene soziale Dimension der Klimakrise und einen einzigartigen Vorteil, den das Gesundheitswesen in Sachen Klimaschutz genießt.

Teil 1: Vor der Welle

Ich beginne mit einer kleinen Szene – der Veröffentlichung einer Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zum Thema Klimagerechtigkeit. Viele von Ihnen erinnern sich, dass der Deutsche Ethikrat in den Jahren der Corona-Pandemie sehr viel Aufmerksamkeit bekommen hat. Auch spätere Themen wie künstliche Intelligenz und neue Technologien haben große Beachtung gefunden.

Als wir dann das Papier zur Klimagerechtigkeit vorstellten, sind wir – wie gewohnt – in die Bundespressekonferenz gegangen. Es waren nur vier Journalist*innen da. Zum ersten Mal seit vielen Jahren wurde über eine Stellungnahme des Deutschen Ethikrats nicht in der Tagesschau berichtet. […]

An dem Abend traf ich einige Freunde, die mich fragten: Ist das nicht deprimierend? Ihr habt ein Jahr an diesem wichtigen Papier gearbeitet - und dann interessiert sich keiner dafür? Meine Antwort damals: Welcome to my world. Wenn Sie medizinethische Fragen bearbeiten, stehen Sie fast nie im Zentrum der Aufmerksamkeit. Wenn man zufällig die Welle der Aufmerksamkeit erwischt, ist das die Ausnahme. Was wir kennen, ist: Wir arbeiten an herausfordernden, komplexen und wichtigen Fragen – und die bearbeiten wir auch dann, wenn sich dafür gerade niemand interessiert.

Und das ist – aus meiner Sicht – eine zentrale Botschaft für alle, die sich mit dem Klimawandel und der Klimagerechtigkeit im Kontext der Gesundheit beschäftigen. Wir sind jetzt wieder vor der Aufmerksamkeitswelle.

Der Fokus der Aufmerksamkeit ist weitergewandert. Große Befragungsstudien zeigen: In der Bevölkerung wird der Klimawandel zwar weiterhin als wichtiges Thema gesehen – aber nicht mehr als das dringlichste. Und das steht natürlich im Widerspruch zur Realität, denn die Dringlichkeit steigt. Das ist ein Hinweis darauf, dass wir es bei solchen Fragen immer mit einer Art von Wellenbewegung zu tun haben. Wir stehen jetzt am unteren Punkt – aber das heißt eben auch: Wir sind vor der nächsten Welle. […]

Und hier ist die zweite Botschaft, die ich Ihnen mitgeben möchte: Jetzt wird es schwierig für diejenigen, die auf Aufmerksamkeit angewiesen sind – zum Beispiel, weil sie multilaterale Verhandlungen führen.

Aber einfacher wird es jetzt für Sie, wenn Sie konkret etwas im Gesundheitswesen bewegen wollen. Denn jetzt ist die Zeit der low-hanging fruits, und das sind unserem Fall die sogenannten Co-Benefits: Maßnahmen, die gleichzeitig dem Klima und der menschlichen Gesundheit nützen. Wenn das Thema Klimaschutz aus dem Fokus der schäumenden öffentlichen Aufmerksamkeit rückt, werden strukturelle politische Veränderungen schwieriger. Leichter werden Themen, die die konkrete Handlungsebene betreffen. Und genau hier können Sie aktiv werden. Deshalb freue ich mich, auf dieser Konferenz über Klima zu sprechen – weil es um konkretes Handeln geht, nicht nur um große Strukturfragen.

Teil 2: Wir dürfen soziale Gerechtigkeit nicht vergessen

Ich komme damit zu meinem zweiten Teil. Ich bringe Ihnen zwei Stellungnahmen mit – ganz knapp, wirklich nur schlaglichtartig. Zum einen die Stellungnahme Klimagerechtigkeit des Deutschen Ethikrats, zum anderen einige Punkte aus der Stellungnahme Gesundheit und Klimawandel des Expertenrats „Gesundheit und Resilienz“ bei der Bundesregierung. Ich nenne Ihnen zentrale Gedanken, die sich in gemeinsamen Empfehlungen bündeln lassen. Und am Ende werden Sie – so hoffe ich – wissen, was ich meine, wenn ich von den low-hanging fruits der Handlungsebene spreche.

Der Deutsche Ethikrat hat in seiner Stellungnahme etwas betont, das uns allen eigentlich klar sein müsste: Die Belastungen durch den Klimawandel – und auch die Belastungen, die aus dem Kampf gegen den Klimawandel resultieren – sind ungleich verteilt. Diese Ungleichheit zeigt sich auf mehreren Ebenen. Sie wissen, dass diejenigen, die historisch am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben, heute am meisten unter ihm leiden - das ist die internationale Dimension. Sie wissen auch, dass diejenigen, die jetzt jung sind oder noch gar nicht geboren sind, am meisten unter den Folgen des Klimawandels leiden werden, obwohl sie wiederum am wenigsten dafür können - das ist die intergenerationelle Dimension. Was Sie aber vielleicht nicht vor Augen haben – und genau das ist der zentrale Punkt der Stellungnahme –, ist die dritte Dimension: die innergesellschaftliche Dimension. Schon heute sind in unserer eigenen Gesellschaft diejenigen, die ohnehin wenig haben, besonders betroffen. Sie spüren die Folgen des Klimawandels am stärksten. Und sie zahlen auch überdurchschnittlich viel für Maßnahmen, mit denen wir das Klima schützen oder uns an die Klimaveränderung anpassen wollen. Diese Dimension haben wir aus meiner Sicht in der politischen Debatte etwas aus den Augen verloren. Dabei ist sie entscheidend.

Der Ethikrat warnt daher: Wenn wir Klimaschutz wirksam und gerecht gestalten wollen, dürfen wir nicht nur über internationale und intergenerationelle Gerechtigkeit sprechen – so wichtig diese sind. Wir müssen auch die soziale Dimension mitdenken. Denn wenn wir Maßnahmen ergreifen, die Menschen mit geringen Ressourcen besonders hart treffen – gerade, weil sie weniger Handlungsspielräume haben –, dann verspielen wir Akzeptanz und verletzen ein tiefes Gerechtigkeitsgefühl. Und nicht, weil das Ziel falsch wäre, sondern weil der Weg dorthin als ungerecht erlebt wird.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn Sie mit jemandem sprechen, der die großen globalen Gerechtigkeitsthemen zwar nicht abstreitet, aber auch nicht als besonders relevant für das eigene Leben empfindet, dann sagt diese Person vielleicht: „Ja, ja, macht ruhig etwas gegen den Klimawandel, das ist schon wichtig. Aber nehmt mir nicht mein Steak weg.“ Das ist die Handlungsebene, auf der viele Debatten tatsächlich stattfinden – nicht im Abstrakten, sondern ganz konkret, im Alltag.

Und dann erleben wir politische Krisen wie beim sogenannten „Heizungsgesetz“. Die Kommunikation darüber explodierte und das Projekt scheiterte. Es ist gescheitert, weil Menschen Angst bekommen haben; weil sie das Gefühl hatten, man komme und schreibe ihnen eine teure neue Heizung vor, ohne Rücksicht auf ihre Möglichkeiten. Sie sahen in ihrem Alltag nur Lasten – und diese Angst, dieses Gefühl der Ungleichbehandlung, ließ sich politisch extrem leicht instrumentalisieren. Genau das ist passiert.

Die Lehre daraus ist klar: Wenn wir ernsthaft und erfolgreich Klimapolitik machen wollen, dann müssen wir diese dritte Gerechtigkeitsdimension – die innergesellschaftliche – sehr viel stärker in den Blick nehmen.

Teil 3: Das Gesundheitswesen als Klimabotschafter

Und damit komme ich zu meinem positiven Teil. Hier liegt unsere große Chance. Denn das Gesundheitswesen ist tief im Alltag der Menschen verankert. Wir tun etwas Gutes. Wir sind ein Sektor, der mit Hilfe, mit Rettung, mit Fürsorge verbunden wird. Natürlich auch mit Leid, Schmerz und Sorge – aber wir sind auch diejenigen, die dabei helfen, mit diesen Belastungen umzugehen. Das verschafft uns eine besondere Stellung, gerade wenn es um Fragen innergesellschaftlicher Gerechtigkeit geht. Denn auf dieser Ebene können wir sehr viel bewegen – Dinge, die auf der großen politischen Bühne oft ungleich schwerer umzusetzen sind.

Der Gesundheitssektor verursacht selbst 6 bis 7 Prozent der Emissionen – das ist mehr als doppelt so viel wie der gesamte individuelle Flugverkehr, über den wir gesellschaftlich sehr viel intensiver diskutieren. Gleichzeitig sind wir als Ärzt*innen, Pfleger*innen oder andere Angehörige der Gesundheitsberufe diejenigen, die die Auswirkungen des Klimawandels mit am unmittelbarsten erleben – und darauf reagieren. Wir bauen Krankenhäuser um, wir erstellen Hitzeschutzpläne, wir sorgen dafür, dass Menschen ausreichend trinken. Wir denken voraus, wenn neue Krankheitserreger auftauchen, weil sich durch den Klimawandel ökologische Systeme verändern. Und wir sind, zugespitzt formuliert, die Einzigen, die, symbolisch gesprochen, jemandem das Steak wegnehmen können. Klar ist: Niemand ändert sein Verhalten, wenn man ihm sagt, dass es um internationale Abkommen oder intergenerationelle Gerechtigkeit geht. Der einzige Weg, wie das funktionieren kann, ist über das persönliche Erleben: dass jemand erkennt, es ist gut für mich, es tut mir gut.

Genau das ist unsere Stärke. Wir haben viele gute Geschichten. Wir arbeiten mit Co-Benefits, mit Maßnahmen, die zugleich die Gesundheit fördern und das Klima schützen. Es ist medizinisch völlig klar, dass eine pflanzenbasierte Ernährung gesünder ist als eine stark verarbeitete, industrielle Diät. Das ist ein No-Brainer. Die Studienlage ist eindeutig. Und gleichzeitig ist genau diese Veränderung im Alltag einer der wirksamsten individuellen Hebel für Klimaschutz. Unser Vorteil: Wir müssen das nicht abstrakt erzählen. Wir können ganz konkret bei der einzelnen Person ansetzen – und das ist in der Klimadebatte fast einzigartig. Denn normalerweise haben wir es dort mit dem Problem der Commons zu tun: Kleine Beiträge Einzelner wirken kaum sichtbar im großen Ganzen. In der Gesundheit ist das anders. Hier steht die individuelle Lebensgestaltung im Vordergrund – und genau deshalb bietet unser Feld so viel Potenzial.

Im Expertenrat „Resilienz“ haben wir deshalb eine ganze Reihe Empfehlungen formuliert. Natürlich adressieren wir auch die politische Ebene. Wir fordern, was schon lange überfällig ist: ein ressortübergreifendes Verständnis dafür, dass Gesundheit und Nachhaltigkeit untrennbar verbunden sind, wir wünschen uns eine koordinierende Arbeitsgruppe im Bundeskanzleramt, die alle Ressorts zusammenführt – kurz: Health and Sustainability in all Policies. Das ist für Sie ein alter Hut. Aber, Sie wissen es selbst, im Koalitionsvertrag steht dazu nichts. Das heißt: Auf dieser Ebene sind wir vor der Welle. Der entscheidende Hebel dagegen liegt momentan nicht in der Politik, sondern hier bei uns, in unserem eigenen Feld. Als Expertenrat haben wir deshalb konkrete Vorschläge gemacht, wie sich einfache, alltagsnahe, wirksame Maßnahmen über das Gesundheitswesen einschleusen lassen – Maßnahmen, die wirklich etwas verändern können. Das ist der Schlüssel, den wir als Gesundheitssektor in der Hand halten. Etwas, das in die private Lebensgestaltung hineinreicht und den Menschen dabei sogar noch guttut.

Zum Schluss: Wenn wir über Gerechtigkeit sprechen, sie aber nicht erlebbar machen, verlieren wir die Menschen, die wir für mehr Klimaschutz brauchen. Wenn wir dagegen Geschichten erzählen, die zeigen: Das, was du für dich selbst tust – wie du besser lebst, wie du gesünder lebst – das hat gleichzeitig auch einen positiven Effekt für uns alle, dann haben wir eine Geschichte, die viel stärker trägt als die schwerfällige, verantwortungsschwangere Erzählung von internationaler oder intergenerationeller Gerechtigkeit.

Ich möchte Sie daher ermutigen, in diesem Tal der Aufmerksamkeit – ja, es ist da – die großen Gerechtigkeitsdimensionen nicht zu vergessen, aber zugleich den Fokus auf all die Beispiele für Co-Benefits zu legen, die Sie aus Ihrer Praxis kennen. Erzählen Sie sie, zeigen Sie sie. Denn sie zeigen, wie das eigene Leben besser werden kann – und mit ihm auch unsere gemeinsame Zukunft. Herzlichen Dank.


Transkript und Bearbeitung: Tilman Eicke, Ahnen&Enkel

Alena Buyx ist eine deutsche Medizinethikerin und Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien an der Technischen Universität München. Sie war von 2020 bis 2024 Vorsitzende des Deutschen Ethikrats und hat sich insbesondere während der Corona-Pandemie durch ihre differenzierten Beiträge zur ethischen Bewertung gesundheitspolitischer Maßnahmen einen Namen gemacht. Ihr Engagement gilt einer verantwortungsvollen Verbindung von Medizin, Gesellschaft und Technologie.