Internationales Plenum #2
Jede*r wird anders krank
Wie häufig Atemwegserkrankungen auftreten, wie früh sie diagnostiziert werden und wer Zugang zu einer Behandlung hat – all das hängt in hohem Maße von sozialen Faktoren ab. Das zweite internationale Forum widmet sich der Frage, wie öffentliche und private Akteur*innen dazu beitragen können, diese Ungleichheiten zu verringern.
Joan Soriano beginnt mit einem ikonischen Bild: dem berühmten Foto des Erdaufgangs über dem Mondhorizont. Es ist das meistgesehene Foto der Welt. „Hier auf dieser Erde passiert alles – das Gute wie das Schlechte“, sagt der Professor für Atemwegsmedizin. Ihm geht es um das große Ganze – und das ist paradox: Einerseits geht weltweit die Kindersterblichkeit ebenso wie die Todesfälle durch Infektionen und chronische Krankheiten zurück. Andererseits führen Umweltverschmutzung, die Abholzung von Wäldern und Erderwärmung dazu, dass sich die Lage bei Atemwegserkrankungen verschlechtert.
Laut der Global Burden of Disease Study litten 2017 weltweit über 540 Millionen Menschen an chronischen Atemwegserkrankungen. „Asthma und COPD kommen am häufigsten vor. Doch jetzt haben wir zum ersten Mal eine Übersicht über die Verteilung der Krankheitsfälle nach Geschlecht und Lebensalter“, sagt Soriano. So trete Asthma unter männlichen Kindern und Jugendlichen häufiger auf, im Erwachsenenalter und unter Älteren seien Frauen stärker betroffen. Die Zahl der COPD-Betroffenen steige hingegen im Erwachsenenalter unter Männern stärker an als unter Frauen.
Alter und Geschlecht sind jedoch nur zwei der vielen Ungleichheitsfaktoren. Das Risiko, an Atemwegserkrankungen zu leiden, variiert auch nach Region, Einkommen, Bildungsstand, Wohnort – und selbst innerhalb von Städten nach Stadtteil.
Künftige Maßnahmen, betont Soriano, müssten deshalb weit über individuelle Verhaltensänderungen hinausgehen und gezielt soziale Ursachen adressieren. „Individuelle Interventionen sind dann am wirksamsten, wenn sie auf lokale Gegebenheiten abgestimmt sind.“ In Spanien hat eine von der spanischen Gesellschaft für Pneumologie und Thoraxchirurgie (SEPAR) geleitete Kommission Empfehlungen erarbeitet, um die gesundheitliche Chancengleichheit bei Atemwegserkrankungen zu verbessern. Der Katalog wird im Juni auf dem SEPAR-Kongress in Bilbao vorgestellt.

Abbildung 1 - Respiratory Conditions are the leading cause for emergency hospital admissions in the UK
Quelle: Adapted from: Surge in repeat hospital visits for lung conditions. Asthma + Lung UK. Available at https://www.asthmaandlung.org.uk/media/press-releases/surge-repeat-hospital-visits-lung-conditions
Michael Crooks – „Wir müssen nicht auf Technologie warten“
Die NHS Humber Health Partnership hat in der nordenglischen Region Hull und East Yorkshire eine Initiative durchgeführt, die genau an solchen sozialen Faktoren ansetzt. Atemwegsbeschwerden sind in den Notaufnahmen des United Kingdom der häufigste Einlieferungsgrund (siehe Abbildung 1), noch vor Verletzungen und Vergiftungen. „Im Dezember stehen vor den Krankenhäusern in Hull die Krankenwagen Schlange, so sehr steigen die Zahlen im Winter an“, sagt Michael Crooks, Pneumologe aus Hull. „Das liegt auch an sozialer Ungleichheit.“ Die Zahl der Einlieferungen steige in benachteiligten Städten deutlich stärker als in den wohlhabenden Städten. Hull ist die landesweit viertärmste Stadt – und zudem die mit den zweitmeisten Raucher*innen.
Eine Statistik des NHS zeigt dies sehr deutlich (siehe Abbildung 2): In den Regionen, in denen die ärmsten 10 Prozent der englischen Bevölkerung leben, werden im Dezember mehr als doppelt so viele Menschen mit Atemwegserkrankungen eingeliefert wie in den Regionen der reichsten 10 Prozent. Und auch der Anstieg der Einlieferungen mit Atembeschwerden zwischen August und Dezember fällt in den ärmsten Regionen stärker aus (Faktor 2,8) als in den reichsten Regionen (Faktor 2,6).

Abbildung 2 - Respiratory Disease and Deprivation Drive Winter Pressures
Quelle: A Mission for Lung Health. Asthma + Lung UK
Soziale Ungleichheit verstärkt saisonale Effekte auf Atemwegserkrankungen
Das Programm FRONTIER, getragen von der Hull University, NHS Trust und dem Unternehmen Chiesi, will unter dem Motto „Finding the hidden millions“ COPD früher diagnostizieren. Personen mit bereits bestätigter COPD oder hohem Risiko werden nach einem Jahr erneut untersucht. Ziel ist es auch, die wirtschaftlichen Vorteile flächendeckender Lungenchecks aufzuzeigen.
Die bisherigen Ergebnisse zeigen: 26 Prozent der Patient*innen, bei denen erstmals COPD diagnostiziert wurde, hatten in den zwölf vorangegangenen Monaten bereits Symptome. Aufgrund ihrer Beschwerden haben sie anschließend ihr Verhalten umgestellt und waren körperlich weniger aktiv. Bewegungsmangel wiederum erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen – ein Teufelskreis.
„Wir müssen nicht auf technologische Durchbrüche warten, um Fortschritte zu erzielen“, so Crooks. „Viele COPD-Patient*innen nehmen ihre Symptome als gegeben hin. Wir können ihnen helfen, sich ihrer Lage bewusst zu werden – und früher einzugreifen.“
Jakub Dvořáček: „Es gibt große Unterschiede beim Zugang zu Innovationen“
Dass auch zwischen den EU-Ländern große Unterschiede beim Zugang zu Medikamenten, Behandlungen und zur Diagnostik bestehen, beschäftigt Jakub Dvořáček, den stellvertretenden Gesundheitsminister Tschechiens. So haben Patient*innen in Tschechien derzeit Zugang zu rund 100 medizinischen Innovationen, das entspreche innerhalb der EU dem siebten Platz. Deutschland führe das Ranking mit knapp 150 Innovationen an. „Doch wir sehen auch das andere Ende des Spektrums“, sagt Dvořáček. „In einigen Ländern ist der Zugang auf 14 oder 15 Innovationen beschränkt.“.
Als wichtiges Element einer gerechten Gesundheitsversorgung innerhalb Tschechiens hebt Dvořáček Patientenräte hervor. „Zu jeder legislativen Entscheidung im Gesundheitsbereich werden die Patientenräte konsultiert“, sagt er. Sie seien beispielsweise eingebunden bei Evaluation neuer Innovationen, auch im Zulassungsprozess für bestimmte Therapien. So wird nicht nur die Perspektive der Betroffenen berücksichtigt, sondern auch ihre Rolle als zivilgesellschaftliche Akteure gestärkt – indem sie mitbestimmen, welche Prioritäten gesetzt werden.
Text: Martin Kaluza, Ahnen&Enkel
Joan B. Soriano ist außerordentlicher Professor an der Abteilung für Atemwegsmedizin des Hospital Universitario de la Princesa und der Universidad Autónoma de Madrid. Er war leitender Berater im COVID-19-Managementteam der WHO in der Schweiz.
Prof. Michael Crooks ist Pneumologe an der Hull York Medical School und klinischer Leiter des Humber and North Yorkshire Respiratory Network. Er forscht zur Diagnose und Behandlung von Atemwegserkrankungen wie Asthma und COPD.
Jakub Dvořáček ist seit 2022 stellvertretender Gesundheitsminister der Tschechischen Republik. Zuvor war er Exekutivdirektor der Association of the Innovative Pharmaceutical Industry (AIFP) und Leiter der Investitionsabteilung bei CzechInvest.